Über den Zustand der Welt – Alfredo Jaars dystopische Zeitdiagnose

Text für art in berlin (10.10.2024)

Es wäre zu schön, wenn uns diese Ausstellung nichts anginge. Wenn es möglich wäre, einfach wieder hinauszulaufen aus dem Schummrig-Dunklen ins Helle. Kopfhörer auf, Spotify an (bei der Gelegenheit vielleicht mal wieder Nicolas Jaar), schnell noch ein Bild auf Instagram hochladen, #alfredojaar #kindlberlin.

Doch so einfach ist es nicht. Die Ausstellung „The End of the World” von Alfredo Jaar (*1956 in Santiago de Chile, lebt in New York) im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst lässt sich gedanklich nicht einfach zur Seite schieben. Nicht, weil sie immersiv wäre oder weil die Besuchenden zur Interaktion mit dem Gezeigten eingeladen würden. Sondern, weil wir Subjekte unserer Gegenwart sind, deren Körper durch Smartphones und Laptops erweitert wurden. Als solche stehen wir in der 20x20x20 m großen Halle, die in dunkelrotes Licht getaucht ist. Mittig befindet sich eine Vitrine, darin liegt ein 4x4x4 cm großer Würfel, der sich aus 10 verschiedenen, übereinander geschichteten Plättchen zusammensetzt. Er ist auf seine Art schön: gleichmäßig, geordnet, glatt, harmlos. Um den Würfel eröffnet sich jedoch ein Kontext, der dem dystopischen Titel „The End of the World“ durchaus gerecht wird.

Die Präsentation setzt Jaars langjährige Beschäftigung mit der Ausbeutung des Globalen Südens durch den Globalen Norden und den damit einhergehenden weitreichenden ökologischen, politischen und sozialen Krisen fort. Seit vier Jahrzehnten setzt Jaar sich in seinen Fotografien, Videos, Installationen und Interventionen mit komplexen sozio-politischen Themen sowie mit der Ethik und den Grenzen der Darstellbarkeit auseinander. Frühe Arbeiten wie „Gold in the Morning“ (1985) dokumentieren beispielsweise die gefährlichen, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen der Minenarbeiter in der brasilianischen Goldmine Sierra Pelada und „Rwanda Project“ (1994-2010) fokussiert einen der gewalttätigsten ethnischen Konflikte der jüngeren Geschichte, den Völkermord an den Tutsi.

Hinter der für das Kesselhaus konzipierten Installation „The End of the World“ stehen fünf Jahre Forschungsarbeit zu den Abbaubedingungen jener Rohstoffe, die unseren Alltag bestimmen. Die zehn Plättchen bestehen aus Kobalt, Seltenen Erden, Kupfer, Zinn, Nickel, Lithium, Mangan, Coltan, Germanium und Platin – zehn Metalle, die für viele Bereiche unseres täglichen Lebens unentbehrlich sind. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung, der Elektromobilität, für Hightech-Anwendungen und Speichermedien sowie für den modernen militärischen Bereich. Und auch für die „Netto-Null-Emissionen“, für die Kohlenstoffneutralität, die durch erneuerbare Technologien erreicht werden soll, sind diese Rohstoffe von entscheidender Bedeutung.
Gleichzeitig geht ihre Gewinnung mit massiver Umweltzerstörung einher, mit Menschenrechtsverletzungen, Sklaverei, mit der Zerstörung Schwarzer, Brauner und Indigener Gemeinschaften und mit Kriegen.

Für jeden der zehn Rohstoffe listen Jaar und der Humangeograf und politische Geologe Adam Bobbette hier die Abbaubedingungen sowie die ökologischen, politischen und sozialen Konsequenzen auf. Ein Einblick in die gefährliche Unordnung unserer Welt, angesichts derer man verzweifeln möchte. Doch Verzweiflung bringt keine Lösung, Handeln schon. Aber was tun, angesichts der Größe des Dramas. Wo anfangen und wie weitermachen? Oder doch einfach schnell wieder das Smartphone anmachen, Musik hören, Nachrichten verschicken, Social Media bedienen? Wie jemand in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ steht man in diesem roten Bühnenbild, in dem alles so trügerisch ruhig ist, aus dem man nicht mehr so richtig rausfindet. „An dieser Stelle und in diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns passt oder nicht“, heißt es bei Beckett. Eine Menschheit „am Abgrund einer neuen, beängstigenden Welt“ (Bobbette).

Hinterlasse einen Kommentar