Der Raum als leeres Blatt Papier – Ein Gespräch mit der Künstlerin Akane Kimbara

Hier geht es zum Artikel auf art in Berlin.

Ich „treffe“ Akane Kimbara (*1971 in Shizuoka, Japan) in ihrer aktuellen Ausstellung Panta Rhei bei TOM REICHSTEIN | CONTEMPORARY in Hamburg. Aus meinem Arbeitsraum in Berlin folge ich der Künstlerin auf dem Handybildschirm durch die große Halle, in der auf einem Wandmodul ihre neuste Video-Arbeit Panta Rhei (2020, HD-Video, 18:59 min) gezeigt wird. Rechts und links von Projektion werden an den Wänden ihre Zeichnungen präsentiert. Gerne würde ich live erleben, wie die Atmosphäre des Ortes mit Kimbaras Arbeiten auf Papier, diesen surrealen Miniaturerzählungen, interagiert. 
Das erste Mal begegnete ich ihrem Werk in der Ausstellung Spagat im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin, wo die Zeichnungen eine konzentrierte Ruhe erzeugten, die mich sofort in die rätselhafte Bildwelt der Künstlerin einsog. Stunden hätte ich vor den sonderbaren Wesen und Formationen, die Kimbaras Bilder besiedeln, verbringen können: die herrenlosen, im Kreis tanzenden Schuhe, der sich an einem Felsen ausruhende Schwan, zwei sich berührende Hände mit bis ins Unendliche reichenden Armen, kopflose Figuren, eine Treppe im Nirgendwo, die ins Nichts führt … 
Akane Kimbaras Motive sind figürlich und doch abstrakt, konkret und doch unergründlich, und sie sind immer von viel Weiß umgeben. Sie erwecken den Eindruck, als hielten sie sich nur vorübergehend auf dem Papier auf, als wollten sie in jedem Augenblick wieder verschwinden. Wie gut, dass der Rahmen sie festhält, denkt man noch, bevor man aus dieser phantastischen Welt wieder heraustritt. 

Akane Kimbara, Schuhe im Kreis, 2012, Bleistift und Tusche auf Papier, 18 x 25 cm, Courtesy of Akane Kimbara

Ferial Nadja Karrasch: Akane, Deine Arbeit in wenigen Worten …
Akane Kimbara: Minimalistisch, surrealistisch.
Häufig wird meine Arbeit als „typisch asiatisch“ oder „typisch japanisch“ bezeichnet. Ich halte von solchen Kategorisierungen nichts. Natürlich ist meine Kunst von meiner Herkunft, von der japanischen Kultur und den Landschaften geprägt. Aber das ist doch bei jeder Künstlerin und jedem Künstler der Fall. Alles, was ich sehe und wahrnehme beeinflusst meine Ästhetik. 

FNK: Warum hast Du Dich für die Medien Zeichnung und Video entschieden?
AK: Eigentlich habe ich in Tokyo Malerei studiert, aber ich habe schon immer parallel dazu auch gezeichnet. In der Malerei werden Stimmungen über die Farbe und über den Pinselstrich transportiert – was mich am Medium Zeichnung fasziniert, ist die Möglichkeit, mit wenigen Mitteln viel zu erzählen. Einfache, nüchterne Linien können eine klare Bedeutung zum Ausdruck bringen, da ist es gar nicht nötig, ergänzende Stimmungen drumherum zu erzeugen. Meine Zeichnungen sind für mich wie eine eigene Sprache. Jedes Motiv ist ein bestimmtes Wort. 
Aber manchmal sehne ich mich auch zur Malerei zurück. (lacht)
In meinen Videoarbeiten entwickle ich die Zeichnungen weiter, indem ich den absurden, surrealistischen Figuren oder Momentaufnahmen eine Zeitachse und somit Bewegung hinzufüge. Es geht mir nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern darum, die Bedeutung, die die jeweilige Zeichnung in sich trägt, für mich intensiver herauszuarbeiten. Das Video „Zwischen Hund und Wolf“ (2020, HD-Video, 61:40 min), das auch in der Ausstellung gezeigt wird, basiert beispielsweise auf einer Zeichnung, in der zwei Beinpaare jeweils auf einen Würfel steigen. Da wollte ich wissen, was passiert, wenn ich diese Aktion tatsächlich ausführen lasse. Also habe ich die Zeichnung mit Hilfe zweier Protagonisten in die Videoarbeit überführt. Die Handlung besteht darin, dass die beiden Personen, die sich am Ufer eines Sees befinden, zwei Kuben auf- und absteigen. Die Arbeit dauert ca. 60 Minuten, in dieser Zeit wird es aufgrund der natürlichen Dämmerung immer dunkler, bis nichts mehr zu sehen ist. Der Titel ist die Übersetzung eines französischen Ausdrucks: „Entre chien et loup“ bedeutet Dämmerung. 
Wenn ich sage, dass meine Zeichnungen für mich wie Worte einer Sprache sind, dann meine ich damit nicht, dass jede*r diese Sprache auch unmissverständlich versteht… Der Betrachter oder die Betrachterin kann natürlich ganz eigene Assoziationen haben.

FNK: Und worum geht es in der titelgebenden Video-Arbeit Panta Rhei?
AK: Diese Arbeit entstand als Reaktion auf den Ausstellungsraum. Ich habe vier Linien auf den Boden gemalt und somit eine Begrenzung geschaffen, innerhalb derer die Protagonisten agieren können. Das ist in gewisser Weise wie bei meinen Zeichnungen: Dort fungiert das Papier als Raum, bei Panta Rhei fungiert der Raum als zunächst leeres Blatt Papier, auf dem etwas passiert. 
Ein Akteur verteilt sorgfältig einen Stapel Papierblätter, die zweite Figur bläst sie mit dem Laubbläser weg. Der eine stellt Ordnung her, der andere Unordnung. Und so gibt es eine Reihe von Aktionen und Reaktionen, bei denen ein Zustand von dem nächsten abgelöst wird. Alles ist im Werden begriffen, alles fließt …

Installationsansicht, Courtesy of Akane Kimbara / Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge
Installationsansicht, Courtesy of Akane Kimbara / Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge

FNK: Woher kommen die Ideen zu Deinen Bildern, woraus beziehst Du Inspiration?
AK:Meine Inspirationsquelle ist das alltägliche Leben, alles kann zum Inhalt meiner Arbeiten werden. Ich zeichne jeden Tag bevor ich ins Bett gehe die Bilder auf, die mir im Kopf herumschwirren. Diese Skizzen, man könnte auch „Kopfbilder“ sagen, sind die Ausgangspunkte meiner Arbeiten. 

FNK: Du präsentierst Deine Zeichnungen in verschieden großen Rahmen und fasst zum Teil auch mehrere Blätter in einem Rahmen zusammen. Außerdem scheint die Hängung einem bestimmten Rhythmus zu folgen …
AK: Ja, die einzelnen Zeichnungen sprechen für sich, aber im Raum ist mir die Reihenfolge sehr wichtig. Dabei achte ich nicht nur auf die Motive, sondern auch auf die Eigenheiten des jeweiligen Raumes. Hier, in der Ausstellungshalle TOM REICHSTEIN | CONTEMPORARY hat man die große Fensterfront und dieses rechteckige Fenster zum Büro – das sind alles Elemente, die ich natürlich bei der Hängung mitdenke. 

FNK: Deine Zeichnungen zeigen oft nur Fragmente einer Figur, beispielsweise einen Fuß oder einen Arm, und sie lassen viel Raum auf dem Papier – welche Rolle spielt die Auslassung in deiner Arbeit? 
AK: Jede meiner Zeichnungen drückt ein bestimmtes Bild aus, das ich im Kopf habe und ich finde es braucht nicht mehr, um dieses Bild mitzuteilen: Es genügt eine einzelne Hand, um Traurigkeit, einen Schnabel um Lustigkeit zu vermitteln und Schuhe benötigen nicht unbedingt eine Figur um Bedeutung zu generieren.
Selbst wenn ich eine komplette Figur zeichne, hat sie zumeist kein bestimmtes Geschlecht, kein Alter. Manchmal zieht eine Figur einen Rock an, aber das heißt nicht, dass ich ihr Geschlecht definiere.

Akane Kimbara, Ohne Titel (Stock auf Berg), 2019, Bleistift und Tusche auf Papier, 84,1×59,4 cm, Courtesy of Akane Kimbara

FNK: Welche Rolle spielen die Titel?
AK: Meistens sind meine Zeichnungen mit Ohne Titel benannt und in Klammer steht dann eine genauere Bezeichnung, z.B. Ohne Titel (Stock auf Berg): der Titel ist sehr nüchtern, sogar absurd… wie ein Stock auf der Spitze eines Berges. 
Aber wenn man das Bild betrachtet, kommt eine bestimmte Stimmung auf.
Für meine Zeichnungen benutze ich meistens konkrete Motive als „Requisiten“. Wenn ich einen Berg zeichne, spielt er eine bestimmte Rolle, jeder hat ähnliche Assoziationen zu dem Begriff „Berg“. Ich kombiniere solche Elemente und kreiere damit eine Aussage. Aber ich definiere nicht genau, was es bedeutet. 
Die Zeichnung ist eine Momentaufnahme. Vielleicht ist eine Sekunde vorher etwas Trauriges passiert, oder eine Sekunde später passiert etwas Überraschendes. Mit dieser Ambivalenz spiele ich auf dem Papier, intuitiv. Diese Offenheit ist mir wichtig. 

FNK: Was sind Orte in Berlin, an die Du immer wieder zurückgehst?
AK: Mein Zuhause, denn hier arbeite ich auch. Und ich gehe gerne an der Rummelsburger Bucht spazieren – dort fühle ich mich zuhause.  

Installationsansicht, Courtesy of Akane Kimbara / Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge
Installationsansicht, Courtesy of Akane Kimbara / Tom Reichstein Contemporary, Foto: Henning Rogge

Akane Kimbaras Ausstellung Panta Rhei (4.12.2010-6.2.2021) bei TOM REICHSTEIN CONTEMPORARY in Hamburg ist derzeit aufgrund des Lockdowns bis voraussichtlich Ende geschlossen.

Aktuelle Infos unter: www.tomreichstein.com 

Titelbild: Akane Kimbara, Anlehnen, 2019, Bleistift, Buntstift, Pastel und Tusche auf Papier, 29,7 x 42 cm, Courtesy of Akane Kimbara 

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