Das Sinema Transtopia – Ein Ortsportrait

Text für Kultur-Mitte (21.11.)

Mit SİNEMA TRANSTOPIA startete bi’bak 2020 im Haus der Statistik am Alexanderplatz ein Kino-Experiment, das Kino als sozialen Diskursraum und als Ort des Austauschs und der Solidarität versteht. Ein Ortsportrait.

Lindower Straße 20/22 lautet die Adresse des Sinema Transtopia, und man könnte sagen: Das passt, diese Verortung im Gleichzeitigen. Ein bisschen in der Nummer 20, ein bisschen in der Nummer 22, beides zur gleichen Zeit, nicht entweder oder. Denn hier, an dieser Adresse, geht es um die Frage, wie sich neues Kino in einer transnationalen Gesellschaft gestalten lässt: In einer Gesellschaft, deren Lebenswelten und soziale Bezüge sich über Nationalgrenzen hinaus aufspannen und deren Akteur*innen sich durch pluri-lokale Identitäten auszeichnen. Stark verkürzt dargestellt.  

Der Komplexität dieser transnationalen Gesellschaft Rechnung zu tragen, ihren vielfältigen Geschichten und Narrativen zu folgen, ihre Ästhetiken kennenzulernen, ist das Ziel des Sinema Transtopia, das seine Vision auch im Namen trägt: Als Transtopie bezeichnet der Migrationsforscher Erol Yıldız Räume, „in denen Grenzüberschreitende Bindungen und Verbindungen zusammenlaufen, neu interpretiert werden und sich zu Alltagskontexten verbinden“.
Zuhause ist das Sinema Transtopia seit Januar 2023 in einer ehemaligen Hinterhof-Werkhalle, in direkter Nachbarschaft zu Callie‘s, das internationalen Kunstschaffenden Raum für Ateliers und Aufenthaltsstipendien bietet. Auf 350qm bietet das experimentelle Kino, oder: das Kino-Experiment Sinema Transtopia einen professionell ausgestatteten Präsentationsraum, der für Filmvorstellungen und anschließende Gespräche geeignet ist, für Symposien, Konferenzen und Workshops. Seine Angebote richten sich nicht ausschließlich an Filmschaffende, sondern auch an Film-Interessierte, Kinder und Jugendliche sowie an Pädagog*innen. Ende September fand hier beispielsweise eine vom Netzwerk Filmbildung Berlin ausgerichtete Fortbildungsveranstaltung statt, die zum Ziel hat, Lehrer*innen bei der Planung filmpädagogischer Unterrichtseinheiten zu unterstützen. Alle zwei Monate trifft sich das Netzwerk Filmbildung Berlin zum Austausch und versammelt so verschiedene Institutionen, Initiativen und Akteur*innen der Film- und Medienbildung an einem Ort. Sie alle erarbeiten vielfältige Angebote für die frühkindliche und schulische Filmbildung – wichtige Arbeit, wenn man bedenkt, dass Filmbildung in Deutschland nach wie vor stiefmütterlich behandelt wird. Doch hierzu später mehr.  

Angefangen hat alles mit unregelmäßig stattfindenden Filmabenden, die Malve Lippmann und Can Sungu in dem von ihnen 2014 gegründeten Projektraum bi’bak (Türkisch für „Schau mal“) organisieren. Neben den Filmvorführungen präsentieren sie ein vielfältiges interdisziplinäres Programm, bestehend aus Ausstellungen, Workshops, Musikveranstaltungen und kulinarischen Events. Ziel des bi’bakino, aber auch der weiteren Programmbereiche bi’bakaudio, bi’bakwerk, bi’baxchange ist von Anfang an, „transnationale, (post-)migrantische und postkoloniale Erzählungen“ ins Zentrum zu stellen und den „weißen eurozentrischen Blick zu dezentrieren“, so Sungu in einem Interview mit dem DFF – Deutsches Filminstitut und Filmmuseum. Kino nimmt in der Einschätzung der bi’bak-Gründer*innen eine besondere Rolle ein, da das gemeinsame Filmesehen laut Sungu ein großes Potential berge, Perspektiven zu dezentrieren oder zu vervielfältigen. bi’bak wird 2017 erstmals und 2020 wiederholt von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt als Projektraum ausgezeichnet.

Ab 2018 und spätestens mit der 2020 aufkommenden Pandemie wird der Raum, ein Ladenlokal an einer Weddinger Hauptstraße, jedoch zu klein und die Suche nach einer neuen Spielstätte beginnt; nach einem Ort, der sich mit den Anforderungen eines (experimentellen) Kinos besser vereinbaren lässt.
Das Finden einer neuen Spielstätte gestaltet sich schwierig in einer Stadt, in der Raum zunehmend knapp und teurer wird. Schließlich findet sich eine Brachfläche in Mitte, doch nachdem bereits architektonische Pläne ausgearbeitet wurden, ziehen die Eigentümer ihr Angebot zurück. Die Suche geht weiter. Im September 2020 wird bi’bak Teil der Pioniernutzung im Haus der Statistik am Alexanderplatz. Eine temporäre Lösung, wie von Anfang an feststeht, doch hier wird aus dem Filmclub bi’bakino das Sinema Transtopia, ein Projekt, das Kino als sozialen Diskusraum, als Ort des Austauschs und der Solidarität denkt.

Schließlich finden Lippmann und Sungu die alte Werkhalle in der Lindower Straße, direkt an der U-Bahnstation Wedding. Eine ab 2023 zur Verfügung gestellte und für vier Jahre angesetzte Förderung durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt macht die Anmietung des Gewerberaums, den Umbau und die Ausstattung möglich. Wichtige Schritte in Richtung Professionalisierung und Verstetigung sind getan. Der gemeinnützige Verein bi’bak fungiert fortan als Träger und das Sinema Transtopia etabliert sich schnell zu einem bedeutenden Raum für Akteur*innen der freien Szene und Filmfestivals. Der Kalender ist vollgepackt: verschiedene Filmreihen, Filmfestivals, zahlreiche Artist Talks. Zu sehen sind historische sowie aktuelle Filme aus Deutschland, Frankreich, der Türkei, Malaysia, Indonesien, Rumänien, Kroatien, Iran, Katar, Nigeria, Kolumbien, Mali, Russland, China und so weiter und so fort. Die Veranstaltungsformate beziehen auch Musik, Tanz und Diskussionen ein, in den Workshops findet praktische Arbeit statt. Neue Filme und kuratorische Formate sollen hier entwickelt werden, so Lippmann. Und auch der filmhistorischen Arbeit hat sich das Team des Sinema Transtopia verschrieben: So fokussiert beispielsweise das Projekt Bitte zurückspulen „die deutsch-türkische Film- und Videokultur in Berlin, die nie wirklich jemanden als Forschungsthema interessiert hat“ (Sungu) und die außerhalb der türkischsprachigen Community kaum bekannt ist.

Für die jüngeren Besucher*innen bietet das sogenannte Sinemanino ein Schulprogramm zur Migrationsgeschichte nach Deutschland an, das vor allem von den umliegenden Grundschulen genutzt wird. „Bildung ist ein zentraler Aspekt unseres Konzepts“, so Lippmann in einem Telefonat mit der Autorin. „Kinder und Jugendliche sollen mit Film in Berührung kommen. Bewegtbild ist immer präsent und es ist wichtig zu lernen, wie man diese Bilder lesen kann.“ Dabei geht es im Sinema Transtopia ausdrücklich nicht um die Vermittlung von Medienkompetenz, sondern um kulturelle Filmbildung und Kino als soziale Praxis.
„Filmbildung soll die Lernenden befähigen, sich lebenslang mit Kino auseinanderzusetzen, kritisches Verständnis, Neugier und Begeisterung für Filme zu entwickeln und selbst filmpraktisch zu arbeiten”, so Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, in ihrer virtuellen Auftaktrede zum Kongress für Filmbildung Vision Kino 23, der im Juni diesen Jahres in Hamburg stattfand. Doch anders als beispielsweise Literatur und Bildende Kunst ist die Filmbildung nicht oder zumindest nicht ausreichend in den Lehrplänen der Schulen verankert. Und auch Förderprojekte wie „Kultur macht Stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beziehen Lese- und Sprachförderung, Tanz-, Theater-, Zirkusprojekte, Mediengestaltung und bildende Kunst ein, nicht jedoch Filmbildung. „Dieser Bereich ist nicht gut ausgestattet, es gibt wenig Mittel, die speziell für die Filmbildung reserviert und ausgeschrieben sind“, meint Lippmann.

Wie wichtig es ist, filmische Bilder lesen zu lernen, veranschaulicht derzeit beispielsweise der arte-Dokumentarfilm „Brainwashed – Sexismus im Kino“. Er führt vor Augen, wie die Bildsprache des Kinos die Frau zum passiven Objekt stilisiert und wie dies die gesellschaftliche Wahrnehmung von Frauen manipuliert. Denn: Filmische Bilder und die mit ihnen vermittelten Botschaften dringen in die Vorstellungskraft der Menschen ein und prägen unser Bewusstsein, ohne dass wir uns dessen im Klaren sind.
Das verdeutlicht auch ein Projekt, an dem Lippmann und Sungu anlässlich des 60. Jubiläums der Migration aus der Türkei nach Deutschland arbeiteten. Sie sichteten ein umfassendes Analog-Filmarchiv des Dokumentationszentrums und Museums für die Migration nach Deutschland, das Materialien zur sogenannten Gastarbeitermigration enthält. „Man kann in manchen der FWU (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht)- Filme aus den 1970er und 1980er Jahren relativ klar bestimmte (auch rassistische) Bilder und Narrative herausarbeiten, die den Blick und die Mainstream- Meinungen in der (auch linken) Mehrheitsgesellschaft geprägt haben und die bis heute subkutan weiterwirken“, erzählt Lippmann im DFF-Interview. Im Bereich der Filmbildung und der Nachwuchsförderung füllt das Sinema Transtopia also eine Lücke und schafft einen Ort des (Ver-)Lernens, an den jede*r eingeladen ist und der für jede*n offensteht.

Für die kommenden Jahre visieren Lippmann und Sungu eine Weiterentwicklung zu einem Hub für Filmschaffende und Filminteressierte an. „Der Film braucht Nachwuchs und der wiederum braucht Orte für Experimente, an dem nicht in Marktkategorien gedacht wird, sondern künstlerisch experimentiert werden kann“, sagt Lippmann. Es ist also einerseits schon viel geschafft, andererseits liegt auch noch viel vor dem Team von Sinema Transtopia.
Im September dann die Schreckensnachricht: Die für die Planungssicherheit so notwendige Konzeptförderung für Projekträume der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt wird im Senatsentwurf zum Kulturhaushalt 2024/2025 ersatzlos gestrichen. Ein Schock für die pandemiegeplagte Freie Szene und für das Sinema Transtopia, dessen „Bedarf für Mietkosten, Struktur sowie Personal (sich) in den kommenden Jahren (…) keinesfalls ausschließlich über Projektmittel decken“ lässt, heißt es in dem Offenen Brief des Sinema Transtopia vom 8.9.2023.

Um seine Existenz zu sichern, gab es im Senat zwischenzeitlich die Idee, das Sinema Transtopia in der 2025 einzuführenden Kinoförderung anzusiedeln. Doch die Ausschüttung erfolgt hier voraussichtlich anteilig am Umsatz, was für das nicht umsatzorientierte Sinema Transtopia, das eher wie ein Kunstraum funktioniert – natürlich ungünstig wäre.
Und nun? Es gelte nun abzuwarten, was im Dezember bei der Verabschiedung des Doppelhaushalts final entschieden werde, so Lippmann während des Telefonats Ende Oktober.

Doch dann ändern sich die Dinge noch vor Mitte Dezember: Die Koalition beschließt eine Strukturförderung für das Sinema Transtopia, die seinen Betrieb sichert. „Wir sind sehr zufrieden mit dem Beschluss, der hoffentlich dann auch im Dezember rechtskräftig wird“, schreibt Lippmann per Mail an die Autorin.
Die Einladung, die Lippmann noch vor ein paar Wochen ausgesprochen hat, bleibt natürlich bestehen: „Ich lade die Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung dazu ein, vorbeizukommen, sich anzuschauen, was für ein Ort das Sinema Transtopia ist. Ich denke, es ist ein Ort, den man nur verstehen kann, wenn man einmal hier war.“

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